Lebensbaum

Installation “Lebensbaum”
Stadtwaldpark Melsungen

Material:
Eiche, Kupfer, Beton

Auftraggeber:
B. Braun Melsungen AG,
Familie Ludwig Georg und Ilona Braun, Melsungen

1989

Widmung von Herrn Prof. Dr. h.c. Ludwig Georg Braun:

Lebensbaum

Im Sommer 1985 begegneten wir uns zum ersten Mal. Zufällig, und nicht weit jener Stelle, an der ein 100-jähriger Eichenbaum sein Kronendach entfaltete. Die Pracht des Laubes war so beeindruckend, dass dem unaufmerksamen Beobachter der schon verlorene Kampf um sein Weiterleben nicht auffallen konnte. Wir, die wir uns in seinem Schatten unterhielten, begeisterten uns an den Träumen für Europa.

Andreas Tollhopf, geboren 1964 in Rotenburg / Fulda, lebt seit seiner Geburt in Melsungen, da, wo Wald und Natur noch sozusagen in die Stadt hineinwachsen. Es ist zu vermuten, dass die – gewollt oder ungewollt – ihn prägte, die Nähe der natürlichen Umgebung ihm Einsichten eröffnet, die er anderen durch sein Kunstschaffen vermitteln möchte. Was liegt da näher, als von Natur geschaffenes in den ihr gesetzten Grenzen durch künstlerisches Gestalten zu erweitern und zu verschieben.

Er wählt die Ausbildung als Holzbildhauer um seiner Liebe zum Material “Holz” willen, und es ist bis heute sein ideales, mit symbolischer Kraft ausgestattetes Mittel, um Vergangenes sichtbar zu halten und Zukünftigem Hinweis und Rat sein zu können. Holz ist für Andreas Tollhopf nicht tote Materie, ist erlebte Natur, die den Europäer Andreas Tollhopf in Italien oder Frankreich auf Studien- und Arbeitsreisen inspiriert.

Er will uns durch seine Kunstwerke und deren künstlerischen Ausdruck nicht blenden, sondern sie uns als Mahnung des eigenen Handelns und Tun vor Augen führen. Eingriffe ins Leben – sie prägen uns, zeichnen Bilder und Strukturen der Vergangenheit, aber auch des Heute und der Zukunft. Sie formen sich zum Lebensbaum des einzelnen wie der Gesamtheit.

Andreas Tollhopf wählt mit seinem Lebensbaum eine bildnerische Metapher, die Hauptinstrument seiner Gestaltung wird, und er fängt mit wenigen konvexen und konkaven Formen Stimmungen, Gefühle und auch Wertungen ein. Groß und klein, geformt und geprägt von seinem Leben, verstreut in die Richtungen des Himmels und unter dem Himmel zugleich. Hingegossen, kalt aus dem Naturmittel Stein und Sand, der Vergänglichkeit scheinbar trotzend, könnte es die lebenslange Auseinandersetzung der Menschheit mit der Natur versinnbildlichen. Rhythmus und Intonation seiner künstlerischen Gestaltung sind vielleicht leichter vom Betrachter einzufangen als die Vielschichtigkeit der gewählten Metapher, in der, wie in einem DNS-Molekül, die Information über den kulturellen Kosmos gespeichert ist.

Andreas Tollhopf steht mit seinem Handeln in einer Tradition, welche die in Jahrtausenden kultureller Arbeit gewonnenen “ewigen Werte” nicht preisgibt. So gewinnt die Ästhetik seines Kunstwerks auch die ethischen Werte von Gut und Schlecht. In dieser Thematik ist Andreas Tollhopf nicht originell. Nietzsche und viele andere vor ihm haben dies ähnlich empfunden. Ein Kunstwerk ist ein zuverlässigerer Gesprächspartner als ein Freund oder gar eine Geliebte, behauptet der Essayist Joseph Brodsky, der sich damit dem ästhetischen Imperativ anderer anschließt.

Vielleicht auch mit dem Blick auf Andreas Tollhopfs Skulptur des Lebensbaumes wird dem Betrachter deutlich, dass es keine andere Zukunft für den Menschen als diejenige gibt, welche die Kunst ihm vorzeichnet. Sicherlich kommt der Treibhauseffekt auch ohne Ästhetisierung aus, um uns die Hölle heiß zu machen, genauso wie keine Lektüre von Goethe über Schiller bis Thomas Mann die Menschen in vergangenen Jahrhunderten daran hinderte, aufeinander zu schießen.

Ich wünsche Andreas Tollhopf und seinen Werken das Glück des Eintritts in die große Tradition des humanistischen Widerstands gegen die Gleichgültigkeit.

Ludwig Georg Braun

Melsungen, 1989